Heiss, trocken, Kasachstan!


Staubige SteppeGanz ehrlich: Obwohl wir bald drei Monate unterwegs sind, scheint die Radreise so richtig erst mit der Abfahrt aus Elista (03.06) und dem Grenzübertritt nach Kasachstan (09.06) begonnen zu haben. Die Strecke von Münster (GER) bis Elista (RUS), ca. 4500 km, war Aufwärmtraining für den ersten wirklich harten Abschnitt der Radreise, der direkt hinter Elista angefangen hat, und uns geschätzt bis Taschkent (UZ), also über insgesamt ca. 3000 km begleiten wird: die Steppenlandschaft. Mittlerweile haben wir davon bis Aktoebe (19.06) 1300 km geschafft und ingesamt 5800 km zurückgelegt. Für die Fahrt in der Steppe haben wir unser bisheriges Reiseverhalten den “örtlichen Gegebenheiten” anpassen müssen… Schwimmblase und Trockenfisch

Bevor wir Elista nach vier Tagen in Richtung Astrachan verlassen (03.06), besiegeln wir an einem Abend in der “Baustellen-Küche” unseres Gastgebers Tseren typisch kalmueckisch-russisch unsere Druschba (Freundschaft). Insgesamt haben wir auf der Radreise bisher sehr wenig Alkohol getrunken und haben bei allen Einladungen versucht, den Wodka Konsum möglichst gering zu halten. Es hört sich komisch an, aber Wodka in Russland abzuweisen, ist schwieriger als 200 km Radfahren bei Gegenwind und platten Reifen…

Zum Wodka gab’s “Trockenfisch”. Dieser ist überall in Russland erhältlich. Hierzu wird der Fisch, dem die meisten Eingeweide entnommen worden sind, mit Salz eingestrichen und in der Sonne getrocknet. Wie gesagt, die meisten Eingeweide werden zuvor entnommen. Die Schwimmblase bleibt im Fisch. Sie ist “das beste am Trockenfisch”. Und um sie richtig schmackhaft zu machen, wird sie kurz mit dem Feuerzeug geröstet, und dann natürlich dem Gast angeboten: ja, Schwimmblasen sind schon lecker…

Gegenwind und Zwangspause

Zusammen mit Michal, dem Radler aus der tschechischen Republik, der nach Nepal möchte, fahren wir zusammen bis nach Astrachan. Obwohl wir uns  gut verstehen, ist es für alle drei gewohnungsbedürftig auf einmal nicht in der gewohnten Konstellation, also zu zweit oder alleine zu reisen. Für Michal bedeutet es, sich mit zwei anderen abzustimmen, für uns bedeutet es, einen dritten mit einzubeziehen. Wir stellen fest, dass wir mit verschiedenen Reise-Philosophien unterwegs sind…

Die 350 km bis Astrachan geben uns einen ersten Vorgeschmack auf die ca. 2700 km Steppenlandschaft die hinter Astrachan noch vor uns liegen. Die Straßen sind gerade. Die Landschaft eine einzige Graslandschaft. Und Ortschaften sind alle 50 km zu finden. Die Fahrt ist  von starkem Gegenwind geprägt, der am frühen Nachmittag aufkommt und am Abend abebbt. Wir müssen daher täglich Zwangspausen einlegen und warten bis der Wind sich gelegt hat. Und das zur eigenlich besten Radfahrzeit von 14.00 bis 17.00, manchmal bis 20.00 Uhr. So kommt es, dass wir an zwei Abenden bis 24.00 Uhr radeln und erst dann das Zelt, wenige hundert Meter neben der Straße, aufschlagen. Aber was macht man eigenlich in der Steppe von 14.00 bis 20.00, wo nichts ist, und davon viel? Nichts natürlich…

Radreise und Deutsche Geschichte

Seitdem wir aus Deutschland losgefahren sind, haben wir während der gesamten Radreise auch immer wieder Spuren der deutschen Geschichte  bzw. Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges gefunden: In Deutschland haben wir auf der Fahrt von Göttingen nach Heiligenstadt die ehemalige Innerdeutsche Grenze überquert. In Polen haben wir in Lublin das Konzentration Maydanek besucht. In der Ukraine konnten wir die Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 09. Mai in Zaporizhzhia miterleben. Und in Russland auf der Weiterfahrt von Elista nach Astachan haben wir den Ort Khulkhuta durchfahren. An diesem kleinen Ort stoppte die Rote Armee den Vormasch der Deutschen Wehrmacht nach Osten. Wie uns ein Bewohner von Khulkhuta erzählt – Michal spricht russisch – wurden die Gefechte mehrfach unterbrochen, um an den wenigen Wasserlöchern Wasser zu holen. In diesen Augenblicken kam es auch immer zum friedlichen Kontakt zwischen den Soldaten beider Seiten – bevor kurze Zeit später wieder aufeinander geschossen worden ist…

Auch abseits historischer Orte sind Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges und Nazi-Deutschlands für uns bemerkbar. Oft werden wir während der Radreise nach unserem Herkunftsland gefragt. Die Reaktion auf unsere Antwort “Deutschland” bzw. auf russisch “Germania” war bei der älteren Generation schlichtweg oft: “Ah, Faschist!”, oder “Heil Hilter”. Sicherlich i.d.R. nicht in böser Absicht uns gegenüber gemeint, sondern vielmehr als Ausdruck dessen, was derjenige aus Deutschland kennt. Die jüngere Generation verbindet hingegen ganz andere Dinge mit Deutschland, wie: “Mercedes”, “Bundesliga” oder wie uns selber überraschte “Baader-Meinhof”.

Auch Michal begegnet verschiedenen Spuren der tschechischen Geschichte in Russland. Auf seine Antwort, dass er Tscheche sei, entgegnen ihm viele ältere Männer: “Oh, ich war schon mal in Prag. Mit dem Panzer, 1968, während des Prager Frühlings…”

Astrachan und Wolgadelta

Auch in Astrachan haben wir über couchsurfing eine Unterkunft gefunden. In der Sommerresidenz von Ulfara, die eigentlich Anastasia heißt, aber weil fast alle in Russland Anastasia heißen, lieber Ulfara genannt werden möchte…Die Sommerresidenz ist eine typische russische Datsche am Stadtrand von Astrachan. Ein tolles Stück grün zwischen all den Betonbauten der Vorstädte Astrachans und direkt an einem Nebenfluss der Wolga gelegen, die hier in einem riesigen Delta in das Kaspische Meer mündet. Die Erdbeeren und Kirschen sind reif. Zur Begrüßung hat Ulfaras Vater, Piet, jeweils einen Eimer für uns geflückt. Michal beschließt noch am selben Tag weiterzureisen. Wir beschließen mindestens zwei, drei Nächte zu bleiben und gehen im Fluss schwimmen. Wie gesagt, wie haben eben unterschiedliche Reisephilosphien… Auch Michele aus Amsterdam hat es über couchsurfing in die Datsche von Ulfara verschlagen. Er möchte mit dem Motorrad von Amsterdam nach Nepal reisen. Für die drei Monate dauernde Tour hat er seinen Job als Betriebswirt gekündigt, da sein Chef mit einer solch “langen” Auszeit nicht einverstanden war.

Ulfara zeigt uns ihre Stadt – wir besuchen die Johannes Kirche. Eine der nur vier von ehemals über 40 Kirchen in Astrachan, die die Zeit der Sowjetunion überstanden haben, weil sie als Lagerraum oder Museum genutzt worden sind. Alle anderen Kirchen sind abgerissen worden. Auch die Mariae-Entschlafens-Kirche im Kreml von Astrachan hat mit ihren 75 Meter Höhe die Sowjetzeit als Museum überdauert und ist heute wieder ein Gotteshaus.

In Stadtrandbereich von Astrachan, wo auch Ulfara mit Ihren Eltern in einer kleinen Wohnung lebt, ist das zu Sowjetzeiten installierte und heute noch genutzte ”Zentrale Heizungssystem” stadtbildprägend.  Über lange oberirdisch verlaufenden R0hrleitungssystemen wird Heißwasser aus dem Kraftwerk zu den einzelnen Haushalten transportiert.  Von den Hauptrohleitungen gehen dabei immer Rohrleitungen in die einzelnen Wohnblocks ab. Die Rohrleitungen sind veraltet. Die Isolierung löst sich an vielen Stellen. Anfassen kann man die Rohre nur kurz, sie sind einfach zu heiß. Der Wärmeverlust dieses Heißwassertransportes über mehre Kilometer muss gigantisch sein…

Grenzübergang und Lackschaden

Ca. 80 km hinter Astrachan befindet sich die Grenze zu Kasachstan.  Das Wolgadelta, in dem Astrachan liegt, unterbricht die hinter Elista angefangene Steppenlandschaft für ca. 50 km. Die Ausreise aus Russland verläuft ohne Probleme. Jedoch wird das Warten bei der Grenzabfertigung  zur Qual. Das Wolgadelta sorgt dafür, dass Milliarden kleiner Fliegen in der Luft umherflirren und allen das Leben schwer machen. Auf kasachischer Seite stören Fliegen aus irgendeinem Grund nicht mehr, aber dafür müssen wir länger warten als geplant: Stromausfall…na, dass kann ja was werden, denken wir…Die Grenzer scheinen die Zeit sinnvoll für sich nutzen zu wollen. Sie winken Jörn zu sich. Ohne größere Kommentare zeigen sie auf das Rad, steigen auf, und fahren eine Runde…Hoffentlich passiert nichts, denken wir…und sehen, wie der Grenzer das Rad 300 Meter von uns entfernt mit der Stange an ein Geländer anlehnt…In dem Moment, als wir die Rad erreichen, rutscht die schwerbepackte Leeze am Geländer entlang: ”Danke für den Lackschaden” ärgert sich Jörn ein wenig.  Nach einem kurzen Augenblick nimmt er es jedoch auf die leichte Schulter, denn wer kann schon von einem Lackschaden an seinem Rad erzählen, den ein kasachischer Grenzbeamter verursacht hat…

Atyrau und der Fluss Ural

Nach der Grenze ist unsere nächste Ziel die Stadt Atyrau (12.06). Auf dem Weg dorthin sehen wir unsere ersten Kamele und Dromedare. Atyrau könnte auch Öl-City heißen. Denn  seitdem im Kaspischen Meer größere Ölvorkommen gefunden worden sind, tummeln sich in Atyrau die verschiedenen Öl Gesellschaften. Für deren Mitarbeiter sind eine Vielzahl exklusiver Hotels gebaut worden. Viel interessanter ist jedoch, dass Atyrau am Fluss Ural liegt. Und mit dessen Überquerung sind wir auch nach der dritten Konvention (1. Überquerung Bosporus, 2. Überquerung Manytsch) in Asien angekommen. Zwei Nächte bleiben wir in Atyrau, um uns auf die  nächste, bisher anstrengenste Etappe bis nach Aktoebe vorzubereiten.

Steppe und Schlaglöcher

Wir bepacken also unsere Räder mit zusätzlichen Lebensmitteln und Wasser, tauschen unsere kleinen Trinkflaschen durch 1,5 Liter PET-Flaschen aus, füllen unseren 4 Liter Wassersack und können auf diese Weise jeweils ingesamt 14 Liter Wasser transportieren. Das Wasser muss reichen, um die sehr dünn besiedelte Steppenlandschaft zu durchqueren, in der wir nicht wie bisher in der Steppe von Elista bis Atyrau alle 50 Kilometer ein Ort durchfahren, in dem wir Wasser kaufen können, sondern nur alle 80 bis 120 km…Zur Erinnerung: Kasachstan ist das neunt größte Land der Erde, hat aber nur 19 Millionen Einwohner…Und die wohnen zum Großteil nicht da, wo wir herfahren…

Die Ausfallstraße von Atyrau ist hervorragend geteert. Wir kommen gut voran. Doch das ändert sich hinter Makat. Die Straße existiert teilweise nicht mehr. Riesige Schlaglöcher reihen sich aneinander. Teilweise ist die gesamte Teerdecke nicht mehr auf der Straße vorhanden und eine sehr schlecht zu befahrende Schotterpiste liegt vor uns. Auch für Autos ist es unmöglich, diese Straße zu befahren, sodass sich eine Lehm- und Sandpiste neben der Straße gebildet hat. Obwohl diese teilweise sehr sandige Abschnitte hat, fahren auch wir größtenteils auf ihr. Benötigen wir für 130 km auf normalen Straßen ca. 6 Stunden, müssen wir dafür jetzt 9 Stunden im Sattel sitzen…Solche langen Fahrzeiten bei solch buckeligen Pisten sind vor allem eine Herausforderung für das Sitzfleisch. Das merken wir sehr schnell…Das erste mal seit Polen, haben wir wieder Gesäßprobleme. Natürlich werden auch die Räder nochmal extrem durch solche Straßenverhältnisse und die Zuladung von Wasser uns Lebensmitteln belastet. Doch nach wie vor: Keine größeren Probleme! Vor Qandyaghasa wartet dann noch eine Überraschung auf uns. Die Asphaltdecke sieht super aus. Wir freuen uns. Doch leider kleben wir fest. Der Teer ist von der Hitze so weich geworden, dass wir mit unseren Rädern leicht einsinken und die Mäntel vom Teer umschlossen werden…

Hitze und Steppendilemma

Herausfordernd ist neben der Straße für uns auch die Hitze. Temperaturen von über 40 Grad Celsius sind normal. Wenn die Sonne am Zenit steht, legen wir daher eine längere Pause von ca. 13.00 bis 17.00 Uhr ein. Um dennoch am Tag ca. 100 km fahren zu können, müssen wir unseren Tagesablauf ändern. Sind wir bisher immer gg. 8.00 aufgestanden und nach einem Frühstück um 10.00 Uhr losgefahren, klingelt jetzt gegen 5.00 der Wecker und gegen 7.00 Uhr sitzen wir auf dem Rad. Abends schlagen wir dann das Zelt bei Sonnenuntergang auf, ca. gg. 22.00. Die Tage in der Steppe sind lang. In der Mittagspause versuchen wir daher zu schlafen. Doch schlafen können wir nur da, wo Schatten ist. Die Steppe ist jedoch so flach und so niedrig bewachsen, das es einfach keinen Schatten gibt…Schatten gibt es nur da, wo auch Menschen sind, die uns dann aber vom Schlafen abhalten: Bushaltestellen, Hauserwände oder Mauern. Zwar können wir weit ab von den wenigen Siedlungen unser Zelt aufbauen oder mit den Rädern und Schlafsäcken einen Sonnenschutz oder Schattenspendern basteln, doch schwitzen wir dann auf unseren Isomatten so stark, dass an mehr als ein wenig herumdösen nicht zu denken ist…Die Folge: Schlafdefizit durch das “Steppendilemma”.

Manchmal haben wir aber auch Glück und finden etwas Schatten: Unter Brücken oder Bahnunterführungen. Dort wo sich sonst Ziegen, Rinder und Schafe im Schatten ausruhen, legen wir uns dann auf unsere Zeltplane, vergessen den süßlichen Geruch von Ziegenmist, Kuhdung und Schafsschei*** , kochen Nudeln mit Ketchup oder Ketchup mit Nudeln und schlafen ein wenig…

Mittlerweile sind wir schon den dritten Tag (22.06) in Aktoebe. Wer die Routenplanung mit unserer Route abgleicht, stellt fest, dass wir ziemlich aus der Richtung sind.  Warum eigentlich? Das schreiben wir beim nächsten Mal. Morgen geht es erstmal weiter in Richtung Aral.

Statistik

03.06 Elista – kurz vor Yashkul: 91 km

04.06 k.v. Yashkul – kurz vor Khulkhuta: 101 km

05.06 k.v. Khulkhutta – kurz vor Astrachan: 124 km

06.06 k.v. Astrachan – Astrachan: 38 km

07.06 Aufenthalt Astrachan

08.06 Aufenthalt Astrachan

09.06 Astrachan – kurz vor Ganyuskino: 116 km

10.06 k.v. Ganyuskino - wird noch nachgetragen :103 km

11.06 : wird noch nachgetragen - wird noch nachgetragen: 120 km

12.06: wird noch nachgetragen – Atyrau: 62 km

13.06 Aufenthalt Atyrau

14.06 Atyrau – kurz vor Maqat: 125 km

15.06 k.v. Maqat – weit vor Muqur in der Steppe: 85 km

16.06 w. v. Muqur – kurz hinter Saghyz: 125 km

17.06 k.h. Saghyz – weit hinter Bayghanin in der Steppe: 119 km

18.06 w.h. Bayghanin – kurz hinter Qandyaghasa: 139 km

19.06 k.h. Qandyghasa – Aktoebe: 105 km

20.06 Aufenthalt Aktoebe

21.06 Aufenthalt Aktoebe

22.06 Aufenthalt Aktoebe

23.06 Weiterfahrt Richtung Aral.

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Artikel vom 22. Juni 2009 | Joern | Nachricht an Joern schreiben