Es war schon dunkel als wir letzten Donnerstag (17.09) am symbolischen Mittelpunkt Chinas angekommen sind: Dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing (Peking)! Bei Einbruch der Dunkelheit – Tageskilometer 150 – hatten wir die 6. Ringstrasse, die wir als Stadtgrenze Beijing bezeichnen wuerden, gerade ueberquert. Bis zum Tian’anmen Platz, wie der Platz des Himmlischen Friedens auch genannt wird, lagen noch 30 km vor uns. In der Hoehe der 6. Ringstrasse, zeugt noch nicht viel von der Dimension der 15 Millionen Einwohner Stadt. Hier werden noch Kuehe in Hinterhoefen gehalten, wird Mais angebaut und die Haeuser sind selten hoeher als drei Stockwerke. Jedoch aendert sich das mit jedem Kilometer, den wir weiter in Richtung Innenstadt vordringen. Dabei folgen wir dem Strassenverlauf der G 109, die direkt zum Tian’anmen Platz fuehrt. Noch nie war die Einfahrt in eine Grossstadt mit dem Fahrrad fuer uns so einfach. Nicht nur, weil wir der G 109 folgend, ohne auf die Karte zu schauen, unser Ziel erreichen. Sondern auch, weil parallel zum Fahrweg fuer Autos und Busse, oftmals getrennt durch eine Baumreihe, ein ca. 2,5 m breiter Radweg vorhanden ist… Und selten ist eine Stadteinfahrt so spannend. Denn mittlerweile ist es dunkel geworden und Beijing verschafft sich sein eigenes Licht: durch ausgeleuchtet Parkanlagen, angestrahlte Hausfassaden oder blinkende Reklametafeln…
Der Platz des Himmlischen Friedens!
Dann liegt er vor uns: Der Platz des Himmlischen Friedens. Der Platz, an dessen noerdlichem Ende die “Verbotenen Stadt”, der bis 1911 genutzte Kaiserpalast, liegt. Der Platz, auf dem sich seit 1976 das gewaltige Mao Mausoleum befindet. Der Platz, der mit einem Fassungsvermoegen von 1 Millionen Menschen als groesster befestigter Platz der Welt bezeichnet wird. Und der Platz, der durch die Niederschlagung der Demokratiebewegung Chinas am 4. Juni 1989 den Menschen im Gedaechtnis bleiben wird… Leider koennen wir den Platz des Himmlischen Friedens nicht betreten. Gegenwaertig befindet sich ganz China in den Vorbereitungen zur 60 Jahrfeier der Gruendung der Volksrepublik China. Ein Mittelpunkt der Feierlichkeiten ist dabei der Platz des Himmlischen Friedens. U.a. soll eine Parade aus 200.000 Teilnehmern auf der Strasse zwischen “Verbotener Stadt” und “Platz des Himmlischen Friedens” vorbeiziehen. Von den immensen Vorbereitungen haben wir auch an anderer Stelle einiges mitbekommen…
Paradeprobe - Das Hotel darf nicht verlassen werden.
So konnten wir unser Hostel, dass sich in der Naehe vom Hauptbahnhof befindet, am Freitag (18.09) in der Zeit von 16.00 Uhr nachmittags bis zum naechsten Morgen um 6.00 nicht verlassen. Verschiedene Strassenabschnitte und Plaetze waren gesperrt worden, um fuer die Feierlichkeiten am 01. Oktober zu proben. Und wenn nicht gerade winkende Kinder als Teil der Parade auf den gesperrten Strassen vorbeizogen, wirkte die sonst so uebervolle Stadt an diesen Stellen wie ausgestorben. Alle Geschaefte waren geschlossen. Die Buergersteige waren leergefegt. Es gab kein Durchkommen durch die Strassensperren: Wer nicht um 16.00 Uhr im Hotel war, musste die Nacht woanders verbringen. Wer nach 16.00 das Hotel verlassen wollte, hatte keine Chance dies zu tun. Wieder einmal lernten wir einen Eingriff des Staates kennen, der fuer uns in Deutschland unvorstellbar ist. Denn wer kann sich schon vorstellen, dass der Rosenmontagsumzug in Koeln einen Probelauf macht, und wahrenddessen niemand fuer 14 Std. sein Haus verlassen oder aufsuchen darf…Fuer uns war das an diesem Tag aber kein Problem. Wir haben uns ein wenig ausgeruht, denn nach den zurueckliegenden sportlichen Tagen des Radfahrens - wir hatten waehrend der letzten sechs Radeltage mehr als 800 Kilometer zurueck gelegt und so einen Tagesdurchschnitt von knapp 140 km in den Beinen - war das doch mal wieder notwendig geworden…
G 109 – Durch die Provinz in die Hauptstadt.
Dabei waren die letzten sechs Radeltagen (12.09 – 17.09) nach den ganzen Quaelereien um die verschwundenen Fahrraeder unsere ersten richtigen Radeltage in China. Und diese fuehrten sprichwoertlich mitten durch die Provinz in die Hauptstadt. Denn auf unserem Weg nach Beijing entlang der G 109 lag neben einer Vielzahl an kleineren Doerfern als einzig groesserer Ort die Stadt Datong. Dennoch war die Fahrt von Erdusoi, die Stadt, die wir von Yinchuan aus mit dem Bus angesteuert hatten, nach Beijing aeussert abwechslungsreich – dafuer sorgten nicht nur die vielen Hoehenmeter, die wir erneut zu ueberwinden hatten. Denn fuer uns schien es, als waere die G 109 so gebaut worden, dass man auf ihr eine verkuerzte Reise durch verschiedene Abschnitte des facettenreichen Nord-Chinas unternehmen kann:
Wer nicht auf die Grosse Mauer gestiegen ist, ist kein wahrer Mann!
So durchbricht die G 109 an einer Stelle die Chinesische Mauer oder verlaeuft teilweise parallel dazu: Ziel der Chinesischen Mauer war es, das Kaiserreich China vor Angriffen nomadischer Reitervoelker aus dem Norden zu schuetzen. Insgesamt hat die Mauer eine Gesamtlaenge von ueber 8000 km - besteht aber aus verschiedenen, nicht miteinander verbundenen Mauerabschnitten, die aus verschiedenen Epochen (von 200 v. Chr bis 1600 n. Chr.) stammen und in denen unterschiedliche Baumaterialien benutzt wurden. Mit ihrer Laenge und ihrem Volumen ist die Chinesische Mauer jedoch das groesste Bauwerk der Erde. Der Abschnitt der Mauer, an dem wir entlang gefahren sind, war allerdings in einem aeusserst schlechten Zustand: Nur an einigen Stellen war ein maueraehnliches Bauwerk zu vermuten. Die Wachtuerme, die urspruenglich in regelmaessigen Abstaenden entlang der Mauer erreichtet worden waren, sahen dabei eher aus wir groessere Termitenhuegel – so unkenntlich waren sie in ihrer aeusseren Form. Da diese Mauerabschnitte aus Lehm bestanden, und nicht wie die bekannten Abschnitte der Postkartenmotive aus massivem Stein, sind wir wahrscheinlich an einem relativ alten Teil der Mauer entlang gefahren. Insgesamt war die Mauer in einem so schlechten Zustand, dass wir nicht einmal Mao Zedongs Ausspruch: “Wer nicht auf die Grosse Mauer gestiegen ist, ist kein wahrer Mann” nachkommen konnten. Wir muessen also noch etwas nachholen…
Uebrigens kann die Grosse Mauer nicht, wie lange Zeit erzaehlt worden ist, “mit blossem Auge” vom Mond aus gesehen werden. Als das auch der erste chinesische Raumfahrer Chinas im Jahr 2003 bestaetigte, wurde dies in Schulbuecher korrigiert…
Unterwegs auf der Kohleroute.
Zudem ist die G 109 auf verschiedenen Abschnitten Hauptverbindungsroute zwischen Kohlebergwerken und Kohlekraftwerken: Ohne Unterbrechung sind hunderte, vielleicht sogar tausende dieselbetriebene Lkw im Einsatz, um die westlich von der Stadt Datong abgebaute Kohl zu den Kraftwerken zu transportieren. Abgase und Kohlenstaub liegen in der Luft. Immer wieder kommt es an Verkehrsknotenpunkten zu kilometernlangen Staus. Die Lkw Lawine steht. Mit den Fahrraedern schaffen wir es meistens, uns zwischen den Lkw durchzuschlaengeln. Abends haben wir eine schwarze Russschicht auf unserer Haut. Dies ist vor allem im Gesicht und an den Augen zu erkennen. Auch fuer die Umwelt und die Ortschaften durch die wir fahren, bleibt dies nicht ohne Folgen. Viele Pflanzen, die parallel zur Strasse wachsen, sind mit einer dicken Russschicht belegt. Nahezu jede Ortschaft hat sich auf die Lkw Lawine eingestellt. Jeder zweite Betrieb ist ein KFZ Betrieb oder eine Tankstelle. Ueberall in den Orten stehen Lkw zur Wartung oder Reparatur. In den Wassenpfuetzen spiegeln sich die Altoelreste. Zwischen den Lkw spielen Kinder oder waschen Frauen die Waesche. Und ueberall liegt Muell. Vielfach Plastiktueten – Plastiktueten sind die Pest. Nicht nur in China! Auch, wenn in China die kostenlose Abgabe von Plastiktueten in Supermaerkten seit dem Jahr 2008 verboten ist, werden schaetzungweise taeglich 3 Milliarden Kunststofftueten verbraucht…
Der Herbst klopft an…
Aber abseits der “Kohleroute” fahren wir einsam auf der G 109 durch wunderschoene Landschaften: Anfaenglich radeln wir immer wieder zwischen 1200 und 1700 Hoehenmetern ueber nicht enden wollende Huegelketten. Wir geniessen den Blick in die sanft abfallenden Taeler, die ueber weite Strecken von Menschenhand bearbeitet worden sind - zu gleichfoermigen terassenaehnlichen Feldern. Dabei stellen wir fest, dass der Herbst kommt. Denn zum einen haben sich in den Hoehenlagen ueber 1300 m die Blaetter der Baeume bereits gelblich verfaerbt. Und zum anderen werden die Tage immer kuerzer. So ist es bereits gegen 19.00 Uhr dunkel, sodass wir unseren Tagesrhythmus anpassen: Morgens Aufstehen gegen 6.00 Uhr. Abends im Zelt liegen gegen 19.00 Uhr. Bei solch kurzen Tagen und dennoch recht langen Tagesetappen von ca. 140 km schaffen wir es nicht, selber mittags “warm” zu kochen…muessen wir auch nicht, denn ueberall in China gibt es Garkuechen – aber diese zu finden, ist manchmal garnicht so einfach…
Chinesisch I - Woran erkenne ich eine Garkueche, wenn ich keine Schriftzeichen lesen kann?
…sehen doch nicht alle Garkuechen auf den erst Blick aus wie eine Garkueche. Und sich vorzustellen, dass alle Garkuechen ueber den Eingang diesselbe Beschriftung stehen haben, und wir uns somit nur zwei oder drei Schriftzeichen zu merken brauchen, geht so auch nicht auf. Auf der Suche nach einer Garkueche haben wir in den letzten Tagen jedoch festgestellt, dass Garkuechen und Restaurants aller Art in der Regel durch einen oder mehrere rote Laternen ueber dem Eingang zu erkennen sind. Pedalieren wir also zur Mittagszeit durch eine Ortschaft muessen wir nur nach roten Laternen Ausschau halten…Okay, manchmal stehen wir dann auch in einer KFZ Werkstatt – aber insgesamt liegt die Trefferquote bei ueber 90 Prozent…
Chinesisch II - Wie wir der Name der Stadt Datong ausgesprochen?
Neben der Suche nach einer Garkueche, ist auch das “Nach dem Weg fragen” manchmal nicht ganz so einfach, sind doch die chinesische und die deutsche Sprache soweit von einander entfernt wie Himmel und Hoelle…Wir haben keine Chance, auch nur ein Wort zu verstehen oder auch nur ein Wort lesen zu koennen. Wir radeln sozusagen als Analphabeten durch die Provinz. Oftmals schaffen wir es sogar nicht mal nach einer Ortschaft zu fragen, da wir den Namen anscheinend falsch aussprechen. Natuerlich haben wir uns gefragt, was an der Aussprache der Stadt “Datong” falsch gemacht werden kann, wenn wir nach dem Weg gefragt hatten, und unser Gegenueber wieder einmal nur mit den Schultern zucken konnte…Vielleicht liegt des Raetsels Loesung darin, dass das Chinesische eine Tonsprache ist. Die Veraenderung der Tonhoehe ein und desselben Wortes fuehrt zu einer anderen Wortbedeutung. Insgesamt gibt es im Chinesischen 4 Tonhoehen. Veranschaulicht wird dies oftmals am Wort “ma”. In der ersten Tonhoehe bedeutet es “Mutter”. In der zweiten Tonhoehe “Hanf”, in der dritten “Pferd”, und in der vierten ”schimpfen”. Das ist natuerlich nun schoen zu wissen, hilft uns an der Strassenkreuzung aber nicht wirklich weiter…
Freundlichkeit hat einen Namen – China!
Ueber die Chinesen wird gesagt, dass sie zu fremden Auslaendern grundsaetzlich freundlicher sind als zu fremden Landsleuten. Wie sich Chinesen gegenueber fremden Landsleuten verhalten, wissen wir nicht – wie sie sich gegenueber fremden Auslaendern verhalten um so besser – naemlich sehr freundlich und vor allem interessiert. Dies merken wir bei fast jedem Besuch einer Garkueche oder eines Restaurants. Schon bei der Bestellung werden wir vom gesamten Personal unterstuetzt – inklusive aller Koeche. Das Interesse begleitet uns auch waehrend des Essens – stehen doch oftmals verschiedene Personen – vom Gast bis zum Kellner - an unserem Tisch, und schauen einfach nur zu, wie wir essen…Da ergibt es sich auch hin und wieder, dass sich kurz vor unserer Weiterfahrt das gesamte Personal, einige Gaeste und verschiedene Dorfbewohner bei unseren Fahrraedern versammeln und wir – zur Freude aller – ein Gruppenphoto machen. Solche Dinge erleben wir natuerlich nur in der Provinz. Im Strassenbild der Millionenstadt Beijing gehoeren Auslaender zum Alltag und sind daher nicht mehr so interessant – aber freundlich sind die Chinesen auch in Beijing…
Auf zum “Visum-Urlaub” nach Hong Kong!
Mittlerweile sind wir schon in Hong Kong (21.09). Ein Highlight jagt hier also gerade das naecheste. Aber nicht mit dem Fahrrad haben wir die 2500 km zurueckgelegt, sondern mit dem Zug. Hierher mussten wir aussreisen, da unser 30 Tage Visum abgelaufen war. Grundsaetzlich haetten wir unser Visum auch in Beijing verlaengern koennnen. Wie gesagt: “grundsaetzlich” ist das moeglich. Jedoch ist das in Beijing aufwendiger als in anderen Staedten Chinas – und herum um die Tage der Feierlichkeiten zum 60. Gruendungsjubilaeum der Volksrepublik China nochmals ne Schueppe komplizierter. Aber egal, denn eine Reise nach Hong Kong ist wohl auch ganz spannend…
Reisestatistik – diesmal eher eine Sprintstatistik…
12.09 Erduosi – : 111 km
13.09 wird nachgetragen: 113 km
14.09 wird nachgetragen: 114 km
15.09 wird nachgetragen: 139 km
16.09 wird nachgetragen: 154 km
17.09 Ankunft in Beijing: 180 km
18.09 Aufenthalt in Beijing
19.09 Aufenthalt in Beijing
20.09 Zugfahrt Beijing – Hong Kong
21.09 Ankunft Hong Kong