Endlich mal was Neues: Regen!


Klosterkirche St. Michael - Kiew

Die Kilometer purzeln nur so vor sich hin. Nachdem (28.04 – 01.05) wir drei Tage bzw. vier Naechte Station in Kiew gemacht haben, sind wir bereits vorgestern (06.05) in Zaporizhzhia, einer 850.000 Einwohnerstadt im Sueden der Ukraine angekommen. Die 650 km haben wir laessig in sechs Tage wegpedaliert. Es macht den Eindruck als wuessten unsere Koerper endlich, was wir mit ihnen vorhaben. Nur das Wetter spielt auf einmal nicht mehr mit. Seit drei Tagen regnet es fast ununterbrochen. Doch auch das ist kein Problem, da wir ueber couchsurfing in Zaporizhzhia bei Ivan untergekommen sind und hier vom 06.05 bis zum 10.05 bleiben koennen. Danach geht es dann weiter in den Sueden – auf die Halbinsel Krim. Doch erstmal ein paar mehr Zeilen zu Kiew und die Fahrt nach Zaporizhzhia…

Die kyrillische Schrift – Trainingseinheit fuer China

Da Vitaliy aus Lutsk bereits fuer Kiew eine Uebernachtungsmoeglichkeit bei Andreij und Alla fuer uns arrangieren konnte, und wir daher keine Unterkunft mehr suchen mussten, konnten wir eine kleine Nachtfahrt einlegen und sind nach 187 Tageskilometern gg. 23.00 dort eingetroffen. Zur Erklaerung: Natuerlich ist zelten in Kiew unmoeglich und das Suchen eines Hotels inclusive der Anmeldung an der Rezeption dauert in der Regel 2 bis 3 Stunden (auch, weil wir immer versuchen zu erklaeren, dass wir unsere Raeder mit auf das Hotelzimmer nehmen muessen)…und gerade nachts hat man dazu nicht mehr all zu viel Lust…Das ist uebrigens eine allgemeine Feststellung auf der Radreise. Dinge, die wir zu Hause mal eben nebenbei erledigen koennen, dauern unterwegs immer wesentlich laenger…ein wesentlicher Grund sind natuerlich unsere mangelnden bzw. nicht vorhandenen Sprachkenntnisse. Strassennamen muessen wir aufgrund der Verwendung der kyrillischen Schrift Buchstabe fuer Buchstabe vergleichen…was sich ungefaehr so anhoert: X mit Strich in der Mitte, dann umgedrehtes K, dann A ohne Querstrich usw…Spannend ist es auch im Internetcafe. Die “Mausbefehle” der rechten “Maustaste”, wie “Kopieren” oder “Einfuegen” sind natuerlich auch auf kyrillisch geschrieben. Wir versuchen dann aus der Erinnerung heraus zu ueberlegen, an welcher Stelle “Kopieren” stand…Mittlerweile haben wir aber schon einige Buchstaben des Kyrillischen gelernt und alles laeuft etwas schneller…Wir wissen aber auch, dass das Kyrillische nur eine erste kleine Trainingseinheit fuer unsere Zeit in China sein wird…

Kiew am Fluss Dnepir – Haupstadt der Ukraine

Naja, zurueck zu Kiew. Da zu dieser Zeit das Wetter noch perfekt ist, machen wir lange Spaziergaenge zu den verschiedenen touristischen Zielen. Gleich zwei UNESCO Weltkulturerben sind in Kiew zu finden. Das ist zum einen die St. Sophien Kathedrale aus dem Jahr 1037 sowie zum anderen das Kiewer Hoehlenkloster, das 1051 gegruendet worden ist. Die St. Sophien Kathedrale ist ein mit 13 goldenen Kuppeln ausgestatteter Kirchenbau, der im Innern durch seine tausendjahre alten Malereien, Mosaike und historischen Geschehnisse als ein Nationalheiligtum der Ukraine gilt. Das Hoehlenkloster ist durch seine kuenstlich in den Fels gehauenen Gaenge und darin eingelassenen Moenchszellen, Kapellen und Grabstaetten bekannt. Trotz der fuer uns oestlich wirkenden Kirchbauten ist Kiew eine total normale europaeische Hauptstadt auf einem mittleren europaeischen Preisniveau. Wobei sich der Kapitalismus teilweise ungeregelt entwickelt hat. Oeffnungszeiten sind anscheinend individuell gestaltbar. So haben z.B. Schuhgeschaefte montages bis sonntags von 9.00 bis 21.00 geoeffnet…Gibt es keine Gewerkschaft die protestiert? Kiew ist fest in der Hand des Autoverkehrs. Autos quaelen sich durch gesamt Stadt und parken wo immer sie wollen – egal ob es sich um einen Buergersteig oder eine Fuessgaengerzone handelt. Die Polizei scheint dies zu tolerieren…Radfahrer sehen wir wenige.

In Kiew haben wir dann auch erstmals in der Ukraine Touristen getroffen. Auch unser Hostel, in das wir nach der ersten Uebernachtung bei Andreij und Alla gewechselt sind, da die beiden ebenfalls verreist sind, hat sich auf auslaendische “Traveller” eingestellt. So bietet es das Waesche waschen fuer 2 Euro an. Oder den Besuch von Tschernobyl mit dreitaegiger Vorausanmeldung fuer 40 Euro. Panzer fahren kostet 35 Euro und das Schiessen mit einer echten AK 47, dem ehemaligen Sturmgewehr der russischen Armee, ist ebenfalls fuer 35 Euro buchbar.

Um darueber hinaus einen kleinen Preiseindruck zu bekommen: Der Cheeseburger von McDonalds, einmal vom “The Economist” als weltweit vergleichbaren Preisindikator aufgrund seiner in allen Laendern gleichen Herstellungsart vorgestellt, kostet umgerechnet 50 Cent (fuer alle Fast-Food-Vermeider: in Deutschland kostet der Cheesi z.Z. einen Euro), die Tafel Milkaschokolade aehnlich wie bei uns 60 Cent und der Liter Benzin ebenfalls 60 Cent.

Beobachtungen und Feststellungen – Das Spannende unserer Reise

Das Spannende unsere Radreise wird uns bewusst. Es sind (noch?) nicht die fuer aussenstehende vorstellbaren grossen Abenteuer, bei denen wir gegen Durst in der Wuesste, Kaelte in Sibieren oder Schakale in der Steppe ankaempfen muessen. Das Spannende unsere Radreise sind die kleinen Dinge, die wir beobachten und feststellen koennen, weil wir uns “langsam” und mit “viel Zeit” durch die Laender bewegen. Zudem liegen Polen und die Ukraine beide in Europa, sodass sich landschaftlich nicht so viel zu Deutschland unterscheidet. Das wird sich natuerlich spaetestens mit der Einreise nach Kasachstan, was ungefaehr Anfang Juni sein wird, aendern.

So wundern wir uns ueber die “Autobahnen” in der Ukraine, auf denen wir teilweise fahren. Sie sind je Richtung zweispurig. Radfahrer auf der Autobahn in Deutschland haetten sofort ihren Platz in den Verkehrsfunknachrichten. Hier hingegen teilen wir uns die linke Spur bzw. den nicht asphaltierten Standstreifen vor allem im Westen der Ukraine mit Pferdefuhrwerken oder im Osten mit Traktoren, bei denen wir mit ca. 22 km/h im Windschatten radeln oder wie es bei den Radler so schoen heisst: im Windschatten lutschen. Wir mussten auch lernen, dass der Kreisverkehr hier andere Regeln hat. Wer in den Kreisverkehr einfaehrt, hat Vorfahrt. Wer im Kreisverkehr ist, muss warten. Wir beobachten an jeder Ecke Ukrainer, die Sonnenblumenkerne essen und dazu die Schale der Kerne mit den Zaehnen gekonnt knacken und unauffaellig ausspucken. Interessant ist auch, dass es ueblich ist, nach Feierabend, wenn man z.B. an der Bushaltestelle warten muss, sich die Zeit mit einem Bier aus der wiederverschliessbaren zwei Liter Plastikflasche zu vertreibt…

Entscheidungen treffen – Haupstrasse oder Nebenstrecke

Aber erstmal zurueck zur Radreise von Kiew nach Zaporizhzhia. Jeder, der schonmal eine laengere Radreise in Laendern ohne umfassendes Radwegenetz unternommen hat, steht irgendwann vor der Entscheidung, ob er lieber ueber Hauptstrassen, die in der Regel gut asphaltiert sind, oder ueber Nebenstrassen, die teilweise sehr schlecht asphaliert sind, fahren moechte. Hauptstrassen haben den Vorteil, dass man schneller und direkter von A nach B kommt. Nachteilig ist, dass man vom eigentlichen Land wenig mitbekommt, da Doerfer und Staedte, aehnlich wie es die Autobahnen in Deutschland machen, umfahren werden. Nebenstrassen fuehren unweigerlich dazu, dass sich die Wegstrecke verlaengert, gleichzeitig aber immer durch die Doerfer fuehren, und daher viel interessanter sind. Auch wir mussten uns entscheiden und waehlten den goldenen MIttelweg.

Mal auf Hauptstrassen, mal auf Nebenstrassen fuhren wir also von Kiew parallel zum riesigen Fluss Dnepir Richtung Zaporizhzhia. Dabei unterscheidet sich der Westen der Ukraine sehr stark vom Osten. Es besteht ein eindeutiges Ost-West-Gefaelle. Der Westen war noch sehr gepraegt durch seine kleinteilige Felderstruktur und einer landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft, also der Produktion zur reinen Selbstversorgung. Im Westen ist das Land bisher nicht in seiner Vollstaendigkeit urbanisiert. Das macht sich z.B. allein darin bemerkbar, dass Stoerche in fast jedem Dorf zu finden sind.

Priamo, Priamo – Geradeaus nach Zaporizhzhia

In der Gegend nach Kiew lernten wir sehr schnell ein ukrainische Wort kennen: “priamo”, was soviel bedeutet wie “geradeaus”. Durch die Urbanisierungsmassnahmen waehrend der Sowjet-Zeit wurden riesige quadratische am Reissbrett geplante Felder angelegt, gegen die die Felder der LPG in Ostdeutschland wie Kinderspielplaetze wirken. In der oestlichen Ukraine fahren wir tageland an Feldern vorbei, die mehrere Kilometer lang und breit sind und bis zum Horizont reichen. Die Landschaft sieht aus wie im Emsland. Ein Feld nach dem anderen, durchsaeumt von Baumreihen. Nur der Massstab ist ein anderer und das schwarzbunte Milchvieh fehlt, da hier nur Getreide angebaut wird. Natuerlich sind in einer solchen Gegend Stoerche nicht mehr so zahlreich vertreten…ebenfalls wie im Emsland…Fragen wir in einer solchen Landschaft also nach dem Weg, heisst es immer nur “priamo, priamo” – “geradeaus, geradeaus”. In dieser Zeit kommen wir an keinen groesseren Staedten vorbei. Erst mit der Durchfahrt durch Kremenchuk und Dniprozerzhyns’k und Ankunft in Zaporizhzhia lernen wir einen weiteren Unterschied zwischen der West- und Ostukraine kennen – die Schwerindustrie. Auch bei blauem Himmel stehen graue und rote Wolken ueber den Staedten. Es riecht in der Naehe der Industrieanlagen nach Schwefel und Methan. Kinder spielen in den Randbezirken der Staedte zwischen stark befahrenen Strassen und Eisenbahnschienen Fussball. Neben dem Bolzplatz werden Zwiebeln und Kohlkoepfe gezogen. So stellen wir uns das Ruhrgebiet der 50er Jahre vor…

Doch die Innenstaedte zeigen gleichzeitig den Reichtum den die Industrie bringt. Schon zu Sowjet-Zeiten wurde z.B. in Zaporizhzhia eine 14 Kilometer (ja, vierzehn!) lange und natuerlich priamo-gerade Prachtstrasse angelegt. Es reihen sich neben Geschaeften und oeffentlichen Gebaeuden verschiedene Plaetze mit grossen Wasserfontaenen und Monumenten an der Strasse auf.

Der Horror fuer Radler – Regenjacke an, Regenjacke aus, Regenjacke an…

Auf dem Weg nach Zaporizhzhia konnten wir gemuetlich, abseits der Doerfer und Staedte zelten. Am Abend des 05.05 kam dann der Regen. Zufaellig fing er genau dann an, als wir ueber die einzige Bruecke im Umkreis von 20 km gefahren sind. Schnell fuhren wir unter die Bruecke und bauten unser Zelt auf, auf das es trocken bleiben konnte. So ein Glueck hatten wir am naechsten Abend nicht. Tagsueber hatte es schon immer mal wieder geregnet und abwechselnd auch die Sonne geschienen. Der Horror fuer Radler. Regenjacke an weil es regnet…Regenjacke aus, weil die Sonne scheint und man schwitzt…Regenjacke an, weil es regent…Regenjacke aus usw…Da stimmt es, dass das ukrainische Fruehlingswetter wie eine Frau sein soll…in der Stimmung staendig wechselnd…wie uns spaeter Ivan erzaehlte…

Lustig und aufmunternd waren an diesem Regentag die Menschen, die wir trafen. Als wir uns bei einem Regenschauer an der Tankstelle unterstellten, erzaehlten wir im Gespraech dem Tankwart, das wir nach Wladiwostok wollten…Er erzaehlte es wohl seinen nochfolgenden Kunden….zumindest hielten spontan zwei Autos an, beglueckwuenschten uns uns voll Freude zu unserem Vorhaben, gaben uns Tipps fuer die Weiterfahrt und bestanden auf ein Photo mit uns…

Hervoragend ist nun unsere Zeit in Zaporizhzhia bei Ivan. Zusammen mit seinem Freund Alexij erkunden wir die Stadt, wie z.B. das Dnepir Wasserkraftwerk oder das Museum ueber die ukrainische Geschichte. Das wir so lange bei Ivan bleiben koennen haengt damit zusammen, dass er erst seit drei Tagen aus dem Krankenhaus zurueck ist. Er hat sich Anfang Dezember beim “unsachgemaessen Gebrauch eines Gleitschirms” (Gleitschirm hinter Auto gebunden und dann hochgezogen) die Huefte gebrochen und ist sozusagen jetzt in der Reha-Phase.

Morgen, am 09.05 werden wir uns zusammen die Militaer-Parade der ukrainischen Armee zum Ende des Zweiten Weltkrieges bzw. des Grossen Patriotischen Krieges anschauen. Wir haben schon darueber gesprochen wie sich die Zeiten geaendert haben und wir ohne belastende Vorurteile Zeit miteinander verbringen koennen und Freundschaften entstehen…

Statistik der Radreise – Von Kiew nach Zaporizhzhia

27.04 Zhytomyr – Kiew: 187 km

28.04 Aufenthalt in Kiew

29.04 Aufenthalt in Kiew

30.04 Aufenthalt in Kiew

01.05 Kiew – Pereiaslav Khmel’nytz’kys: 126 km

02.05 Pereiaslav Khmel’nytz’kys – Lypove: 117 km

03.05 Lypove – Kremenchuck: 80 km

04.05 Kremenchuck – Vil’khuvatua: 82 km

05.05 Vil’khuvatua – Solone: 125 km

06.05 Solone – Zaporizhzhia: 85 km

07.05 Aufenthalt Zaporizhzhia

08.05 Aufenthalt Zaporizhzhia

09.05 Aufenthalt Zaporizhzhia

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Artikel vom 08. Mai 2009 | Joern | Nachricht an Joern schreiben